Heldin Hertha

Es ist die größte Umweltsünde der Schweiz: 500.000 Tonnen Sondermüll häuften die Eidgenossen in den 80er Jahren in einer Tongrube an. Hertha Schütz-Vogel hat 30 Jahre lang gegen Müll und Gestank gekämpft. Jetzt wird die Deponie zurückgebaut.

Sie konnte nicht verhindern, dass ihr geliebtes Kölliken massenhaft hochgiftige Abfälle beherbergen musste. Dass in ihrem Dorf im Kanton Aargau, eine Autostunde südlich von Basel, die größte Sondermülldeponie der Schweiz errichtet wurde. Laugen, Lösemittel, Farbreste, alte Batterien, Schlacken aus Müllverbrennungsanlagen, Abfälle aus Aluminium-Werken und Sprengstofffabriken – so ziemlich alles, was für Mensch und Umwelt gefährlich ist, wurde dort unter freiem Himmel abgeladen. In den acht Jahren, in denen die Deponie in Betrieb war, landeten hier fast eine halbe Million Tonnen Giftmüll; öfters kam es zu Bränden. Staub und Gestank breiteten sich in Kölliken aus und im Dorfbach starben die Fische.

All das konnte Schütz-Vogel nicht verhindern, doch sie hatte davor gewarnt. Man kann in ihr das Gewissen von Kölliken sehen. Auch ihre schlimmste Befürchtung, dass Schadstoffe austreten, sollte sich bewahrheiten. Sie drohten den Grundwasserstrom Kölliker Rinne zu verschmutzen, der 200.000 Menschen mit Trinkwasser versorgt.

Immer wieder hatte sie auf die Gefahren hingewiesen. In ihrem Kampf gegen die Deponie ist sie sogar einem zwielichtigen Müllhändler aus Deutschland auf die Schliche gekommen. Doch jahrzehntelang wollte niemand auf die Frau aus dem Unterdorf hören, die von ihrem Haus aus die Deponie im Oberdorf zwar nicht sehen, oft aber riechen konnte – bis es ihr endlich gelang, ihre Mitmenschen zu überzeugen. Mittlerweile wird die Deponie zurückgebaut, ein in dieser Dimension weltweit einmaliges Projekt.

Weltweit einmalig: Der Rückbau der Giftmüllkippe Kölliken wird unter einer speziellen Halle von der Außenwelt hermetisch abgeschirmt. Foto: Michael Billig

Selbst von ihren Gegnern wird Hertha Schütz-Vogel heute respektiert. „Frau Schütz ist eine der besten Kennerinnen der Deponie“, sagt Benjamin Müller, der jetzige Geschäftsführer der Sondermülldeponie Kölliken (SMDK). Er meint: „Dass sie schon in den 70er Jahren an den Rückbau dachte, zeugt von Weitsicht.“ Und er räumt ein, dass die Betreiber – der Kanton Aargau, Kanton und Stadt Zürich sowie die Baseler Chemieindustrie – nicht so weit gedacht hatten.

Ein halbes Leben neben der Giftmülldeponie

An einem wolkenverhangenen Tag im November 2012 besuchen wir zusammen mit Hertha Schütz-Vogel eine Frau, die schon ihr halbes Leben lang neben der Deponie wohnt: Alice Erismann. Von ihrem Grundstück aus lässt sich so gut wie von kaum einem anderen Ort auf die Anlage schauen. Nur eine schmale Straße liegt zwischen ihrem Haus und dem Gelände. Erismann, 80 Jahre, kennt Hertha Schütz-Vogel seit Langem, und sie hat ihr Engagement schätzen gelernt.

Wir sitzen im Wintergarten, Peter Dennler, ein Nachbar ist ebenfalls da. Durch eine verglaste Front blickt man auf die Deponie: Riesige Stahlträger ragen bogenförmig in den Himmel. Mit einer Spannweite von 175 Metern strecken sich zwei Dutzend Bögen über ein Gebäude, eine spezielle Halle, die nur für den Deponierückbau errichtet wurde. Das Hallendach ist an dem eleganten Tragwerk aufgehängt. Darunter, von der Außenwelt hermetisch abgeschirmt, graben sich Bagger durch Hunderttausende Kubikmeter Sondermüll. Sie schlagen ihre Schaufeln tief in den Deponiekörper und holen die Altlasten hervor, die die Chemieindustrie hier einst verschwinden ließ.

Unter dem Hallendach kommen Giftmüllfässer zum Vorschein. Foto: Michael Billig

Es begann mit einem Schwindel. Im Februar 1976 erschien im Landanzeiger, einem Amtsblatt im Kanton Aargau, ein Baugesuch für eine „Kehrrichtdeponie“, eine Müllkippe für Haushaltsabfälle. Sie sollte im Westen von Kölliken entstehen, wo 150 Jahre Lehmabbau ein großes Loch im Boden hinterlassen hatten. In Wahrheit ging es um viel Brisanteres.

Im Juni 1978 öffnete die Deponie. Es würde schon nicht so schlimm werden, dachten Erismann und Dennler damals. Hertha Schütz-Vogel aber ahnte, was wirklich geschah. Warum, kann sie heute nicht mehr erklären. Stutzig wurde sie, als im Sommer 1977 die Tageszeitung in Kölliken von „wassergefährdenden Schmutzstoffen“ berichtete und diese noch im selben Jahr in Fässern anrollten. „Die Deponie war noch nicht offiziell eröffnet, die Grube nicht vorbereitet. Sie haben die Fässer einfach abgestellt“, erzählt die 73-Jährige. „Das war ein ganz schöner Schrecken“, sagt Peter Dennler. Und Alice Erismann erinnert sich: „Lastwagen sind gekommen und haben Schlamm abgekippt. Das hat noch gedampft und gestunken.“

Tage später beschloss Schütz-Vogel, gegen diese Deponie zu kämpfen. In einem ersten Leserbrief, veröffentlicht vor 35 Jahren, forderte sie, dass die Einlagerung des Abfalls auf einer Karte exakt festgehalten werden müsse. „So wäre es zu einem späteren Zeitpunkt möglich, den Standort einer bestimmten Giftkategorie zu ermitteln und dieses Deponiegut wieder auszugraben“, schrieb sie.

Damals war sie 37 und forderte den Bürgermeister von Kölliken auf, offenzulegen, was in der Tongrube abgelagert wird und wer für Schäden aufkommt. Der antwortete zunächst nicht und behauptete dann dass eine Klarstellung nicht von öffentlichem Interesse sei. Damit machte er Schütz-Vogel nur noch misstrauischer. Gemeinsam mit zwei anderen Frauen startete sie im Dorf eine Kampagne. Sie beklebten die Geschäfte mit DIN-A4-großen Zetteln, auf denen sie zu einer Versammlung aufriefen. Das zentrale Wort dieser Plakataktion lautete: „Sondermülldeponie“. Handgeschrieben und mit einem Buntstift rot untermalt stach es hervor. Darunter stand: „Es geht auch Sie an.“

Angst ums Trinkwasser

An den Tag der Versammlung im Dezember 1977 erinnert sich Schütz-Vogel, als wäre es gestern gewesen. „60 Leute waren da, auch die Presse. Alle Plätze waren besetzt.“ Ein Mitglied des Gemeinderates stellte sich den Fragen von Schütz-Vogel. Was er antwortete, gefiel ihr nicht. Die Menschen bräuchten sich keine Gedanken zu machen, beschwichtigte er. Die Deponie sei sicher.

Aber Schütz-Vogel machte sich Sorgen und sagte öffentlich: „Wir tragen Verantwortung für die Welt, die wir unseren Kindern hinterlassen. Ich habe Angst um unser Trinkwasser.“ Für die meisten Bürger aber waren es bloß die Worte einer Frau. Dass sich Frauen einmischten, war in der Schweiz von 1977 ungewöhnlich. Zwar hatten die Eidgenossen fünf Jahre zuvor das Frauenwahlrecht eingeführt, die Gleichberechtigung war jedoch noch nicht in den Köpfen angekommen. Selbst Peter Dennler, so erzählt er jetzt, dachte damals: „Was will die Frau Schütz? Die hat doch auf diesem Gebiet gar nichts zu sagen.“ Schütz-Vogel hat nicht vergessen, wie die Männer im Gemeinderat von Kölliken über die drei Frauen spotteten: „Ihr solltet besser Weihnachtsplätzchen backen.“

So sah es auf der Giftmüllkippe in den 1980er Jahren aus: Fässer werden eingelagert und mit Erde überdeckt. Foto: privat

Als ihre Mitstreiterinnen spürten, dass die Skepsis im Dorf gegenüber Frauen größer war als gegenüber der Deponie, wandten sie sich wieder ihren privaten Dingen zu. Nicht so Schütz-Vogel. „Ich habe mich zunächst über meine Rechte als Bürgerin informiert“, sagt sie. Sie stellte unzählige Anfragen an Gemeinde, Kanton und Bund und beantragte die Einsicht in Gutachten und Verträge. Und lernte schnell, dass die Chancen auf eine Antwort größer waren, wenn sie ihre weibliche Identität verschleierte. Ihre Briefe unterschrieb sie bald nur noch mit „H. Schütz-Vogel“. So trug sie Unmengen an Material zusammen, füllte damit zwei Dutzend Ringordner. In denen findet sich auch die „Bewilligung für die Anlage einer geordneten Deponie für Sondermüll“ des Kantons Aargau. Aus diesem Dokument vom 19. März 1976 geht hervor, dass in Kölliken von vornherein eine Sondermülldeponie geplant war.

Ein anderes Papier aus ihrem Archiv listet detailliert auf, was ein Unternehmer aus Baden-Württemberg in Kölliken beseitigt hatte: Druckfarben, Ölschlamm, Abwasserschlamm, Fettabfälle, Lacke, Teer, Talkumschlamm. 200 Tonnen Dreck hatte der Müllhändler Walter Reinger zwischen Februar und März 1985 in dem Schweizer Dorf abladen lassen – ohne Genehmigung. Jahre später sollte Reinger als „Giftmüllkönig von Süddeutschland“ in die Schlagzeilen geraten. Seine Auftraggeber waren deutsche Firmen wie Zeppelin aus Friedrichshafen und Agfa aus Vaihingen sowie die in Mannheim stationierte US-Armee.



illegale Ablagerung der Firma Reinger auf der Deponie Kölliken im Jahr 1985 – Schriftverkehr zwischen Behörden und Firma (Text)

Doch wie ist Schütz-Vogel an die brisanten Unterlagen gelangt? „Ganz legal“, sagt sie. „Ich habe beim Kanton Aargau schriftlich angefragt, was die Firma Reinger in Kölliken ablagert.“ Den Großteil ihres Kampfes führte sie vom Schreibtisch aus und auf Gemeindeversammlungen, wo sie den Menschen ins Gewissen redete. „Mein Engagement galt immer unserem Dorf“, sagt sie. Ihre Familie lebt seit Generationen in Kölliken. Die Eltern führten eine Schreinerei, die Schütz-Vogel nach dem Tod des Vaters im Alter von 21 Jahren übernahm. Im Jahr darauf heiratete sie einen Schreiner aus Bern, mit dem sie drei Töchter bekam.

Telefonterror und Drohbrief

Dass nun eine Frau glaubte, die Menschen in Kölliken über die Deponie und ihre Folgen eines Besseren belehren zu müssen, kam in Amtsstuben und an Stammtischen nicht gut an. Noch dazu eine dreifache Mutter. Sie wurde verflucht, verhöhnt. Anonyme Anrufer belästigten ihre Familie. „In der Nacht und an Festtagen ließen sie unaufhörlich das Telefon klingeln“, sagt sie. Das zog sich über zwei Jahre hin. Einmal wurde in einem Brief sogar Gewalt angedroht: „Wenn Sie noch einmal in einer Gemeindeversammlung aufstehen, sorge ich dafür, dass Sie nie mehr aufstehen können.“ Der Absender kannte keine Skrupel und gab sich zu erkennen. „Es war ein Bundesbeamter“, sagt Schütz-Vogel. Sie warf das Schreiben in den Müll. Es ist das einzige Zeugnis ihres Kampfes, das sie nicht aufbewahrt hat. Es hätte sie nur an das ungute Gefühl erinnert, das in ihr hochkam, als sie die Zeilen das erste Mal las. „Ich hätte nicht mehr sachlich gegen die Deponie argumentieren können“, sagt sie. Einschüchtern ließ sie sich von der Drohung nicht. Sie leitete eine Kopie des Briefes an den Vorgesetzten des hohen Beamten und an die Polizei weiter. Danach erhielt sie keinen Drohbrief mehr, auch der Telefonterror hörte auf.

Als die Deponie größer wurde, verstummten Hohn und Spott. Anwohner klagten über Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und Gestank. Jetzt fragten die Bürger nach dem Schadstoffgehalt des Wassers, das durch die Deponie ins Erdreich sickerte. Journalisten recherchierten.

Anfang der 80er Jahre kippte die Stimmung im Dorf. Man fürchtete, dass die Grundstücke an Wert verlören. Und forderte höhere Sicherheitsstandards. Vergeblich.

Erst im April 1985 gab die Gemeinde nach und ließ die Deponie stilllegen. Ein Etappensieg. Denn die Umweltsünde war noch nicht aus der Welt. Jahrelang wurde saniert, und die Betreiber kämpften dafür, die Halde wieder öffnen zu dürfen.

Rückbau der Deponie: Betreten der Baustelle nur im Notfall – und im Schutzanzug. Foto: Michael Billig

Allmählich aber stemmte sich das gesamte Dorf gegen die Deponie. 2005 gaben die Betreiber auf und willigten ein, die Anlage zurückzubauen und die Gifte zu entsorgen. Zwei Jahre später begannen sie, die Halle zu errichten. Mittlerweile ist über die Hälfte ausgehoben und auf Lastwagen sowie Zügen zu speziellen Entsorgerfirmen in der Schweiz, den Niederlanden und nach Deutschland transportiert worden. Unter anderem wurden 3250 Tonnen Altlasten aus Kölliken in der Verbrennungsanlage Herten in Nordrhein-Westfalen verheizt. Davon kam rund ein Viertel als Schlacke wieder aus dem Ofen und wurde auf die Deponie Emscherbruch in Gelsenkirchen gebracht. Die besonders schädlichen Filterstäube, die beim Verbrennen entstehen, wanderten in die hessische Untertage-Deponie für Sonderabfälle in Herfa-Neurode. Das Gift von Kölliken lässt sich nicht vollends aus der Welt schaffen.

Zwischen 2016 und 2020 soll zumindest das fast 800 Millionen Schweizer Franken teure Rückbauprojekt abgeschlossen sein. Dann wird Herta Schütz-Vogel mit fast 80 Jahren am Ziel ihres Kampfes sein. Und eine schon oft gehörte Ausrede entlarvt haben: „Dass man allein nichts bewirken kann, dieser Satz stimmt einfach nicht.“

Dieser Beitrag ist zuvor in der Zeitschrift natur (Ausgabe 06/2013) erschienen. 

Update Mai 2017: Der Giftmüll ist mittlerweile komplett aus Kölliken verschwunden. Unter der Halle befindet sich nun ein großes Loch, das mit Steinen und Erde von einer Tunnelbaustelle befüllt wird.